Forschungsstelle für Personalschriften Marburg

Geschichte der Leichenpredigt

Entstehung und Verbreitung

Der Brauch, das Andenken Verstorbener mit einer gedruckten Leichenpredigt zu ehren, ist im 16. Jahrhundert unmittelbar nach der Reformation im mitteldeutschen Kerngebiet des lutherischen Protestantismus aufgekommen, hat sich rasch in den übrigen Gebieten dieses Bekenntnisses verbreitet und wurde - in geringerem Maße - auch von Zwinglianern, Calvinisten und selbst von Katholiken aufgegriffen.

Bestandteile

Das Bedürfnis der lutherischen Kirche zu zeigen, dass auch in ihrem Schoß ein seliges Sterben möglich war, führte im 17. Jahrhundert dazu, in die zu einem selbständigen Bestandteil der Druckschrift erweiterten Biographien der Verstorbenen, die sog. "Personalia", ausführliche Schilderungen der Sterbeszenen und des sie begleitenden geistlichen Rituals aufzunehmen.

Außerdem gesellten sich zur eigentlichen Predigt noch weitere Teile hinzu, z.B. die Abdankungs- und Standrede ebenso wie das Programma Academicum in Leichenpredigten auf Wissenschaftler und die Epicedien, die Trauergedichte der Verwandten und Freunde.

Druckauflage und Umfang

Überwiegend für Adlige und das wohlhabende Bürgertum, die soziale Oberschicht, wurden Leichenpredigten gedruckt. Dem entspricht die nicht selten kostspielige Ausstattung mit einem Portrait des Verstorbenen als Holzschnitt, später in Kupfer gestochen, auch mit Text und Noten von Trauerkompositionen. Erhaltene Druckereirechnungen weisen Auflagenhöhen zwischen 100 und 300 Exemplaren nach; der Umfang konnte von anfangs 10 bis 20 Seiten in Oktav oder Quart im 17. Jahrhundert bis auf 100, 200 und mehr Seiten in Folio oder gar Großfolio anwachsen. Messkataloge des Buchhandels belegen, dass die Leichenpredigten im 17. Jahrhundert als Erbauungsliteratur ihren Markt hatten. Gelegentlich begegnen sogar Neuauflagen.

Regionale Verteilung

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts ist die Gattung weitgehend außer Gebrauch gekommen. Das Gebiet mit dem höchsten Leichenpredigten-Aufkommen wird im Süden durch den Main und im Norden von einer Linie zwischen Osnabrück und Berlin begrenzt. Neben Schlesien, einer Hochburg der Barockliteratur, bieten die oberdeutschen Reichsstädte reiche Bestände.

Serielle Geschichtsquelle

Die erbauliche Absicht der Leichenpredigten, die sie mit der Hagiographie des Mittelalters, der Predigtliteratur oder den Grabmonumenten der Barockzeit teilt, sowie ihr Charakter als Gelegenheitsschrifttum haben ihrer Entdeckung als Geschichtsquelle lange Zeit im Weg gestanden. Das Interesse der modernen Forschung an der Gattung ist bei zahlreichen Disziplinen durch die Mannigfaltigkeit der Informationen geweckt worden, die sie liefert, und durch ihren seriellen Charakter, der einer elektronischen Datenverarbeitung entgegenkommt und statistisch signifikante Aussagen ermöglicht.

Biographie

Von besonderem Wert für die Vielzahl historischer Fragestellungen sind die biographischen Abschnitte wegen der Möglichkeit, verallgemeinerungsfähige sozialgeschichtliche Erkenntnisse zu gewinnen, und zwar gerade auch zu aktuellen Themen der modernen Forschung. Hierzu gehören Immatrikulationsalter, Studienfächerwahl, Verweildauer und Frequenz an den Universitäten ebenso wie z.B. der Ausbildungsgang und die Wanderungen der Gesellen, die sonst erst seit dem 18. Jahrhundert überliefert sind, oder die Migrationsbewegungen schlesischer Protestanten unter dem Einfluß von Gegenreformation und Dreißigjährigem Krieg.

Multidisziplinär

Für die Geschichte der Frühen Neuzeit schlechthin, die Sozialgeschichte gerade ihrer führenden Schichten, für Stadt-, Universitäts- und allgemeine Bildungs-, ja Kulturgeschichte bieten die Leichenpredigten eine Fülle von statistisch verwertbaren Daten in räumlicher Differenzierung. Oftmals eingehende Krankheitsberichte sind für die Geschichte der Medizin und der Pharmazie von Interesse. Auch für die Familie und ihre Binnenbeziehungen sowie für die Berufe lassen sich Aufschlüsse gewinnen. Ferner liefern die Bildbeigaben reiches Material für Ikonographie und Emblematik.