Forschungsstelle für Personalschriften Marburg

Justinus Kirsten (1643-1702)

01.11.2011

Kategorie: Leben in Leichenpredigten

Von: Eva Bender

Ein Thüringer Gelehrter zwischen Karriere und Heimat

In der Frühen Neuzeit bildete sich aus einem Überangebot an Universitätsabsolventen eine Schicht von Gelehrten heraus, die nach dem Abschluss ihrer Ausbildung nicht immer eine sofortige Anstellung an einer Akademie fanden. Eine Möglichkeit, dennoch ein einigermaßen erträgliches Auskommen zu finden, ergab sich in der Anstellung als Erzieher von jungen Adligen oder auch als ihr Begleiter während der Kavalierstour.[1]

Justinus Kirsten war ein hervorragend ausgebildeter Gelehrter in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, den seine Netzwerke und Verbindungen durch ganz Europa führten. Seine Kontakte zu durchaus einflussreichen und angesehenen Personen konnten ihn jedoch nicht davon abhalten, bei der ersten Gelegenheit nach Thüringen zurückzukehren. Dabei zeigt die Leichenpredigt anschaulich, dass Mobilität in Form einer Peregrinatio academica mit anschließendem Auslandsaufenthalt,[2] die in der Regel als Qualifikationskriterien für den sozialen Aufstieg innerhalb der frühneuzeitlichen Gesellschaft galten,[3] von der reisenden Person nicht immer als positiv empfunden wurde.

Bereits vier Jahre nach seiner Geburt am 20. Juli 1643 in dem kleinen Ort Oesterbehringen bei Gotha musste Justinus Kirsten nach dem Tod des Vaters in den Nachbarort Wangenheim zu seinem Vormund ziehen.[4] Dort aufgewachsen, wechselte er im Alter von 14 Jahren nach Gotha und durchlief am Gymnasium alle Klassen.[5] Seine Begabung qualifizierte ihn zu einem Universitätsstudium, das er 1665 in Kiel aufnahm, wo er bei den ursprünglich aus Thüringen stammenden Samuel Reyher[6] und Peter Museaus[7] studierte. Hier tat er sich vor allem durch seine guten Mathematik-Fähigkeiten hervor,[8] die er auch gleich an den königlich-dänischen Statthalter von Delmenhorst und Oldenburg, Burchhardt Graf von Ahlefeld, weitergab. Aus dieser Anstellung folgte eine weitere Beschäftigung als Informator bei einem Holsteiner Edelmann, den er an die Universitäten Kiel und Leipzig begleitete. Von hier aus brach er 1673 auf eigene Kosten zu seiner Peregrinatio academica nach Italien auf, wo er sich bis Ende 1675 aufhielt. Kirsten reiste bis nach Neapel und hielt sich längere Zeit in Rom auf. In der Ewigen Stadt unterrichtete er junge Adlige, wobei er sich vor allem auf die Mathematik spezialisiert hatte. Dadurch wurde der Universalgelehrte Athanasius Kircher[9] auf ihn aufmerksam, der Kirsten gerne für das „Collegium Romanum“ gewinnen wollte. Dieser fürchtete jedoch um die Sicherheit seines Glaubens und nahm den Ruf nicht an. Stattdessen unterrichtete er erneut – nun einen schlesischen Baron, den er 1675 nach Norditalien begleitete. Kirsten verließ den Adligen in Turin und trat in die Dienste des Herrn von Rochefort, den er in Deutsch unterrichtete. Da dieser der Sohn eines der obersten Mitarbeiter des Prinzen von Carrigan und Grafen von Soisson war, erhielt Kirsten die Möglichkeit, im Gefolge der Gräfin von Soisson, die die Oberhofmeisterin der Königin von Frankreich war, nach Paris zu reisen.

In der französischen Hauptstadt traf er im April 1676 auf Erbprinz Friedrich August von Sachsen-Eisenach, den er auf seiner Prinzenreise durch Südfrankreich und wieder über Straßburg und Frankfurt am Main nach Thüringen begleitete. In Eisenach erhielt er den Ruf Friedrichs I. Herzog von Sachsen-Gotha-Altenburg als Informator für seine beiden Söhne, Friedrich und Johann Wilhelm, und kehrte im Mai 1680 ganz in die Nähe seines Geburtsortes zurück. Immerhin blieb er – die Prinzen und Prinzessinnen im Schreiben und Rechnen unterrichtend – bis 1692 in Gotha und nahm auch einen erneuten Ruf des Grafen von Ahlefeld, der mit einer ansehnlichen Entlohnung verbunden war,  „aus Treue zum Landesherrn“ nicht an. Vielmehr begleitete Kirsten die Gothaer Prinzen als Informator des Erbprinzen Friedrich, der seinem Vater als Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg im Dezember 1693 nachfolgte, von September 1692 bis August 1693 in die Vereinigten Niederlande und nach England.[10] Nach der Rückkehr arbeitet er als Kanzlei-Sekretär in Gotha und ab 1697 bis zu seinem Tod 1702 als Assessor des Konsistoriums in Altenburg.

Der Lebenslauf von Justinus Kirsten liest sich als eindrucksvolles Zeugnis seiner Gelehrsamkeit als Mathematiker, die ihn zu einem Mitglied einer der angesehenen Akademien des 17. Jahrhundert hätte werden lassen können, sowie seiner gesellschaftlichen Kontakte an den französischen Königshof, die sicher für seinen Aufstieg innerhalb der Informatoren-Hierarchie sorgten.[11] Die langjährige Mobilität, bei der sich Elemente der gelehrten Peregrinatio academica wie auch der adligen Kavalierstour verschmolzen, war für Kirsten jedoch nicht angenehm gewesen. Aus der eigentlichen Leichenpredigt, die auf die abwechslungsreichen Gelehrtenreisen mit Verweisen auf Homers „Odyssee“ und Martin Zeillers „Itinerarium Hispaniae“ (1637) Bezug nimmt, geht hervor, dass er die stete Mobilität von Kindheit an als negativ empfunden hat.[12] So ist das in der Leichenpredigt präsentierte Leben zwar vordergründig ein bewundernswertes, erhält jedoch durch die ungewöhnlich persönliche Innensichtweise des Verstorbenen eine relativierende Perspektive. Es gilt also zu hinterfragen, ob bildungsfördernde Mobilität, die vordergründig sozialen Aufstieg ermöglichte, per se positiv für den Reisenden war.

 

Dr. EVA BENDER ist Historikerin mit den Forschungsschwerpunkten Bildungs- und Prinzenreisen, adlige Memoria sowie höfische und politische Kommunikation in der Frühen Neuzeit.

 

Bestand: Stadtarchiv Altenburg
Signatur: A I 27
Enthalten in: Katalog der Leichenpredigten und sonstiger Trauerschriften im Stadtarchiv Altenburg (Marburger Personalschriften-Forschungen 44), Stuttgart 2007

 

Anmerkungen:

[1] Dazu Anton Schindling, Die protestantischen Universitäten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter der Aufklärung, in: Notker Hammerstein (Hg.), Universitäten und Aufklärung (Das achtzehnte Jahrhundert 3), Göttingen 1995, S. 9-19, insbesondere S. 14.

[2] Zur Gelehrtenreise Winfried Siebers, Bildung auf Reisen. Bemerkungen zur Peregrinatio academica, Gelehrten- und Bildungsreise, in: Michael Maurer (Hg.), Neue Impulse der Reiseforschung, Berlin 1999, S. 177-188.

[3] Eva Bender, Die Prinzenreise. Bildungsaufenthalt und Kavalierstour im höfischen Kontext gegen Ende des 17. Jahrhunderts (Schriften zur Residenzenkultur 6), Berlin 2011, S. 108f.; dies, "... daß Er mit Sr. Ld. hiernegst zu reisen, um sich beßer zu qualifizieren ...". Hofpersonal als Begleitung bei Prinzenreisen gegen Ende des 17. Jahrhunderts, in: Elena Taddei/Robert Rebitsch/Michael Müller (Hg.), Mobilität, Migration und Reisen (Innsbrucker Historische Studien 29), Innsbruck 2011/12 (in Vorbereitung).

[4] Die biographischen Angaben stammen aus dem in der Funeralschrift abgedruckten Lebenslauf: Jacob Daniel Ernst, Die zwölfte Predigt: Der himmlisch-gesinnten Seelen über-irdischer Wandel und sehnliches Verlangen, in: Ders., Die Schlaf-Cammern der Gerechten, oder unterschiedliche Leich- Trost- und Gedächtnüßpredigten [...], Altenburg 1706, S. 627-690, insbesondere S. 685-690.

[5] Zum Gothaer Gymnasium: Christoph Köhler/Matthias Lenz (Red.), Festschrift zum 475-jährigen Schuljubiläum des Gymnasium Ernestinum Gotha 1524-1999, Gotha 1999; Heinrich Anz (Hg.), Gotha und sein Gymnasium: Bausteine zur Geistesgeschichte einer deutschen Residenz, Gotha 1924.

[6] Zu Samuel Reyher: Karl Ernst Hermann Krause, „Reyher, Samuel“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 28 (1889), S. 354-358 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd116458119.html?anchor=adb (Zugriff: 20.10.2011). Er war ein Sohn von Andreas Reyher, der in Gotha nachhaltig das Gymnasium geprägt hatte. Vgl. Juliane Brandsch, Andreas Reyher (1601-1673), in: Roswitha Jacobsen/Hans-Jörg Ruge (Hg.), Ernst der Fromme (1601-1675). Staatsmann und Reformer (Veröffentlichungen der Forschungsbibliothek Gotha 39), Bucha bei Jena 2002, S. 364ff.

[7] Zu Peter Museaus: Carsten Erich Carstens, „Musaeus, Peter“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 23 (1886), S. 90-91 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd117187968.html?anchor=adb (Zugriff: 20.10.2011).

[8] Daher wohl auch der Weg zu Samuel Reyher nach Kiel und nicht an die ernestinische Universität in Jena, was sonst nahe gelegen hätte.

[9] Zu Athanasius Kircher: Eckart Roloff, Athanasius Kircher (1602-1680). Der Phantast aus der Rhön macht Karriere in Rom, in: Ders., Göttliche Geistesblitze. Pfarrer und Priester als Erfinder und Entdecker, Weinheim 2010, S. 115-136; Athanasius Kircher, Selbstbiographie, aus dem Lat. übers. durch Nikolaus Seng, neu hg. durch Uwe Hahner, Petersberg 2011.

[10] Bender, Prinzenreise (wie Anm. 3), S. 108f. und 384, Anlage 4 mit der Bedienstetenbesoldung, aus der hervorgeht, dass Kirsten 200 Rthlr. jährlich als Lohn erhielt.

[11] Es ist anzunehmen, dass für Herzog Friedrich I. von Sachsen-Gotha-Altenburg bei der Wahl von Kirsten als Informator seiner Söhne ausschlaggebend war, dass er bereits am französischen Königshof bekannt war. Dies hätte für einen Besuch der Prinzen in Paris während ihrer Prinzenreise förderlich sein können. Die Gothaer Prinzen konnten Frankreich jedoch aufgrund des zu dieser Zeit stattfindenden Reichskriegs gegen Frankreich nicht bereisen.

[12] Dieses hat nun auch die Zeit seines mühsamen Lebens über wohl erfahren/ überleget und betrachtet der weyland hochgelahrte Justinus Kirsten. Derselbe hat von seiner Jugend auf keine bleibende Statt in dieser Welt finden und antreffen können, sondern sich bald hier bald dort aufhalten müssen. Und ob es schiene, als ob nach glücklich abgelegten langwierigen Reisen ihm eine bleibende Statt allhier bey uns zu Altenburg wäre angewiesen worden, so hat ihn doch der Todt dieselbe nicht lange genießen lassen. Zitat aus Ernst, Der himmlisch-gesinnten Seelen (wie Anm. 4), S. 632f. Auf S. 634f. findet sich der Bezug auf Homers „Odyssee“ und auf S. 631 der Bezug auf Martin Zeiller: Martin Zeiller, Itinerarium Hispaniae oder Raiß Beschreibung, durch die Königreich Hispanien und Portugal, Nürnberg 1637, Cap. II, S. 321 (VD17 23:253422R), Digitalisat der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, PURL (Werk): http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN774475722 (Zugriff: 20.10.2011).

 

Erläuterung zu Abbildung 1:

Das Ölgemälde mit dem Titel „British Connaisseurs in Rome“ von James Russel entstand um 1750. Die Darstellung zeigt englische „Grand Tourists“ aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, illustriert jedoch anschaulich auch den von Justinus Kirsten genossenen, gelehrten Austausch im Kontext der Antike.

 

Zitierweise: Eva Bender, Justinus Kirsten (1643-1702). Ein Thüringer Gelehrter zwischen Karriere und Heimat, in: Leben in Leichenpredigten 11/2011, hg. von der Forschungsstelle für Personalschriften, Marburg, Online-Ausgabe: <http://www.personalschriften.de/leichenpredigten/artikelserien/artikelansicht/details/justinus-kirsten-1643-1702.html>

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