Forschungsstelle für Personalschriften Marburg

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

01.09.2014

Kategorie: Leben in Leichenpredigten

Von: Manfred Wenzel

[...] die menschlichen Schwachheiten und Gebrechen, durch welche Du [...] der Natur ihre Schuld bezahltest – Johann Friedrich Röhrs Trauerrede bei Goethes Begräbnis

Der Zudrang war ungeheuer; zahlreiche Wachen des Militärs und der Policey hielten Ordnung. Von Erfurt, Jena, dem Lande wogten die Schaaren herbey [...].[1] Am 26. März 1832, von 8 bis 13 Uhr, hatte die Bevölkerung Gelegenheit, sich von Goethe, vier Tage zuvor gestorben und nun in seinem Haus am Weimarer Frauenplan aufgebahrt, zu verabschieden. Vorher hatte es kontroverse Diskussionen gegeben, ob die Leiche öffentlich en parade ausgestellt werden sollte[2] - wie es Goethes Testamentsvollstrecker Friedrich von Müller formulierte, der eine Bestattung morgens um 6 Uhr in aller Stille favorisierte. Schließlich beugte sich Goethes Schwiegertochter Ottilie dem großen öffentlichen Druck. Am Nachmittag um 17 Uhr fand das Begräbnis in der Großherzoglichen Gruft statt, nachdem etwa 5.000 Personen den Leichenzug begleitet hatten. Der Leichenwagen war derselbe, mit dem Goethes Freund und Gönner Carl August Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach 1828 und dessen Ehefrau Luise, geb. Landgräfin von Hessen-Darmstadt, 1830 ihre letzte Reise angetreten hatten. Der Sarg wurde in der Begräbniskapelle auf einem Teppich niedergelassen, auf dem bereits Goethes Eltern getraut, er selbst, sein Sohn und seine Enkel getauft worden waren.

Ohne auf weitere Einzelheiten der Feierlichkeiten einzugehen, soll hier die Trauerrede näher betrachtet werden,[3] die der oberste kirchliche Vertreter Weimars, Oberhofprediger und Generalsuperintendent Johann Friedrich Röhr (1777-1848) hielt, seit 1820 im Amt als einer der Nachfolger Johann Gottfried Herders:

So ist denn mit dem Vollendeten, dessen sterbliche Hülle dieser Sarg umschließt, das letzte sichtbare Erinnerungszeichen an eine Zeit dahingeschwunden, welche in den Jahrbüchern unserer Stadt und unseres Landes eine weltgeschichtliche Bedeutung und Merkwürdigkeit hat,[4] - der letzte der großen Geister, welche durch ihre mannichfaltige, Geister weckende und Geister leitende Thätigkeit der glorreichen Regierung einer längst in Staub gesunkenen, aber immer noch unvergessenen Landesmutter [Anna Amalia Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach, geb. Herzogin von Braunschweig-Wolfenbüttel] und ihres echtfürstlichen großen Sohnes [Carl August] einen weithinstrahlenden Glanz verliehen! - | Daß uns dabei ein sehr beklommenes Gefühl ergreift, liegt in der Natur der Sache. [...] Aber noch weit erschütternder wird jenes Gefühl durch den Gedanken an die Größe des Geistes, welcher bisher das noch einzige äußere Band zwischen einer schönen Vergangenheit und den Tagen der Gegenwart war [...].Was, fragen wir trauernd, was ist auf Erden bleibend, wenn auch das Hohe und Vollendete, was der Vater der Geister in das Daseyn rief, wie das Gemeinste und Niedrigste, zu seiner Zeit dem Staube verfällt und selbst bei ungewöhnlich langer Dauer seines Vorhandenseyns zuletzt denn doch das unüberschreitbare Ziel findet, das ihm gesetzt ist. [...] Nur das vermag uns dabei Trost und Ruhe zu geben, daß eben das Geistige auch noch dann auf Erden fortlebt, wenn das Irdische, womit es umkleidet ist, in sich zerfällt, und daß das Wirken und Schaffen eines über gewöhnliche Menschengeister so Hocherhabenen, wie dieser Vollendete war, selbst auf dem Schauplatze allgemeiner Vergänglichkeit ein unvergängliches ist. [...] "Seine Werke folgen ihm nach!"[5] - heißt es von Dir in ausgezeichnetem Sinne des Wortes; denn Du wirktest reicher, umfassender und glänzender, als Tausende um Dich her [...]. - | Und wie wir uns durch diese Erwägung getröstet und erhoben fühlen, wenn wir unsern Blick auf die Gruft werfen, in welcher Du bei Fürsten und neben Deinem geliebtesten Geistesverwandten [Friedrich Schiller] ruhen sollst, so fühlen wir uns auch getrieben, Dich selber glücklich zu preisen. Denn wer, wie Du [...] bei seinem sanften und stillen Abscheiden im höchsten Alter des Lebens das Opfer heißer, tiefgefühlter Thränen nicht nur von seinen Kindern, Enkeln und vertrauteren Freunden, sondern auch von einem Fürstenpaare [Carl Friedrich Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach, Sohn Carl Augusts, und Maria Pawlowna, geb. Großfürstin von Russland] empfängt, [...] der darf wohl rühmend fragen: wer war, wer ist beneidenswerther, als ich? der darf sich noch in höheren Räumen des schönen Erdentraumes erfreuen, welcher an ihm vorüberging. - | Und so wandle denn in diesen höheren Räumen die neue Bahn, welche sich vor Deinem verklärten Blicke öffnete, und stille den heißen Durst Deines Wissens in dem näheren Anschaun der Herrlichkeit der Welten, die Dich jetzt umleuchten, und schreite, von den beengenden Banden des Leibes entfesselt, auf dem Pfade der Weisheit rüstig weiter,[6] welche Du hier suchtest, und deren Vollendung und Ziel nur in dem ewigen Geiste zu finden ist, an welchen wir glauben! Was irdisch an Dir war, geben wir der Erde wieder, und mit der sinnlichen Hülle, in welcher Du unter uns wandeltest, begraben wir zugleich die menschlichen Schwachheiten und Gebrechen, durch welche Du auch an Deinem Theile der Natur ihre Schuld bezahltest.[7] "Wenn der Mensch, sprachst Du einst selbst, wenn der Mensch über sein Körperliches und Sittliches nachdenkt, findet er sich gewöhnlich krank. Wir leiden alle am Leben. Wer will uns, außer Gott, zur Rechenschaft ziehen? Tadeln darf man keinen Abgeschiedenen. Nicht was sie gefehlt und gelitten, sondern was sie geleistet und gethan, beschäftige die Hinterbliebenen. An den Fehlern erkennt man den Menschen; an den Vorzügen den Einzelnen. Mängel haben wir alle gemein; die Tugenden gehören jedem besonders."[8] - | Durch diese Deine eigenen Worte auf den Gerechten und Heiligen hingewiesen, vor welchem Du jetzt stehest, um von dem Gebrauche des Dir verliehenen großen Pfundes Rechnung abzulegen, und eingedenk des ernsten Spruches unseres göttlichen Meisters: "Wem Viel gegeben ist, von dem wird man Viel fordern":[9] empfehlen wir Deine Seele der Gnade und Erbarmung Dessen, von welchem wir Alle Erbarmung und Gnade hoffen [...]

Röhrs Trauerrede ist in der Goethe-Forschung nie Gegenstand einer ausführlichen Analyse geworden. In späteren Darstellungen von Goethes Tod und Bestattung wird sie eher beiläufig erwähnt, so bei Norbert Oellers und Robert Steegers mit dem Hinweis, dass es für Röhr "offenbar eher eine lästige Pflicht war, die sterblichen Überreste eines Mannes einzusegnen, der sich nie sonderlich um die christliche Religion bekümmert hatte".[10] Auch Walter Weisbecker moniert, dass sich Röhr "kleinliches Rechten mit dem großen Toten noch an der Gruft nicht versagen konnte".[11] Der Goethe-Biograph Albert Bielschowsky stellte lapidar zur Trauerrede fest: "Sie entsprach nach unserem Empfinden der Bedeutung dieser Stunde nicht."[12] Dagegen bewertete Karl-Heinz Hahn, ehemaliger Präsident der Goethe-Gesellschaft in Weimar, die Rede als "keine leichte Aufgabe", die Röhr "mit Bravour" gelöst habe.[13]

In den meisten zeitgenössischen Berichten über Goethes Begräbnis wird lediglich die Tatsache erwähnt, dass Röhr die Trauerrede gehalten habe, ohne auf diese näher einzugehen. In einigen Fällen sind positive Wertungen zu finden: eine schöne Rede, die jedoch durch das allgemeine Spectakel öfter gestört worden sei[14] - so die Weimarer Sängerin Marie Schmidt an den Maler und Architekten Carlo Ignazio Pozzi noch am Tage der Beerdigung. Von eine[r] des großen Todten würdige[n] Standrede sprach der "Hamburger Correspondent",[15] das "Morgenblatt für gebildete Stände" konstatierte kräftige, geistreiche Worte,[16] eine schöne und wahrhafte Rede notierte der Theologe Johann Stephan Schütze am Begräbnistag in sein Tagebuch,[17] berief sich dabei aber auf das Zeugnis eines anderen. Die "Zeitung für die elegante Welt" hielt eine kurze, aber ergreifende Rede fest.[18] Der Weimarer Publizist Karl Wilhelm Händel berichtete für die "Dresdner Abend-Zeitung": Dann folgte die gediegen-schöne, meist auf Göthe's eigene Worte basirte Trauerrede des Herrn [...] Röhr. - Würdig und wacker, ohne den bei Leichenreden nur allzuhäufig vorkommenden Lobhudel.[19] Der Philologe und Archäologe Karl August Böttiger schließlich, der von 1791 bis 1804 Leiter des Weimarer Gymnasiums gewesen und zu dem Goethe aufgrund von Indiskretionen und Klatschgeschichten immer mehr auf Distanz gegangen war, verfasste eine dreiteilige Artikelserie zu "Goethe's Tod" für die "Allgemeine Zeitung" in Augsburg.[20] Auf die Trauerrede geht er darin zweimal ein: Uns ziemt und der Raum dieses Blattes faßt es nicht, den Parentator zu machen. Leichenredner, wie er seyn soll, ist ja an der geöfneten Fürstengruft schon der freisinnige Röhr gewesen. Andere werden Anderes verkünden, der Unterrichtetste von allen, Riemer, wird nicht schweigen. Handelt es sich hier um eine unterschwellige Kritik an Röhr, dem Goethes Intimus Friedrich Wilhelm Riemer antworten werde? Man muss es nicht, aber man kann es so verstehen. In der Darstellung des Ablaufes des Begräbnisses erscheint Röhrs Trauerrede als kraft- und geistvolle[s] Vorworte zur Segensweihe, welches sogleich in der Hoffmann'schen Hofbuchhandlung gedrukt erschienen ist. Es folgt der nicht immer wörtliche Abdruck der Passage über Goethes Nachwirkung (siehe im vollständigen Text der Trauerrede etwa den Abschnitt: Wie Keiner von den Geistern bis Sinne des Wortes). Schließlich erscheint noch der Hinweis auf die Stelle, die bei vielen Zeitgenossen, insbesondere bei Goethe-Verehrern, für große Irritationen sorgen sollte: Am Schlusse der Rede, wo doch auch der Mängel gedacht werden mußte, die selbst ihm nicht ferne blieben, wird Goethe selbstredend eingeführt.

Wie ausgeprägt die Kritik an Röhrs Trauerrede zumindest in Weimar war, wird zunächst durch ein briefliches Zeugnis deutlich: Als Goethes engster Freund, Carl Friedrich Zelter in Berlin, durch Friedrich von Müller ein gedrucktes Exemplar der öffentlichen "Trauerworte" erhalten hatte und sich diesem gegenüber offenbar anerkennend darüber äußerte (der Brief ist nicht erhalten), antwortete ihm der Adressat am 14. April 1832: Sie glauben nicht, wie wohlthuend mir Ihre Ansicht über die Röhrische Rede war, die ich gegen so viele Angriffe schon im ähnlichen Sinn vertheidigte. Es ist aber auf der andern Seite schön, daß unser Publikum auch nicht den kleinsten Makel, wie ihn doch freilich jene Rede am Schlusse exegesieren läßt, an Goethe haften lassen will und deshalb den Priesterton zu hoch angestimmt fand.[21]

Zelter las daraufhin die Trauerrede noch einmal und schrieb Müller darüber am 21. April 1832 - drei Wochen vor dem eigenen Tod: Nach meinem unmaßgeblichen Dafürhalten darf der erste Diener der Kirche des Landes bey Ausübung seines Amtes gar wohl so reden; denn sein Gott geht über alles Ansehn: so steht's geschrieben. Wäre ich berufen, dieser Rede einen Vorwurf zu machen, so fänd' ich sie kaum geistlich genug; ja, ich wäre in Gefahr, über den Text des Körperlichen und Sittlichen der Zeitlichkeit eine Predigt zu halten, daß die Leidtragenden nicht gewußt hätten, wer gemeint sey.[22]

Von den vielen Angriffen, die Müller im Zusammenhang mit der Trauerrede erwähnt, werden ihm die meisten im mündlichen Umgang in Weimar zugetragen worden sein. Einige sind jedoch überliefert. Goethes enger Vertrauter Riemer schrieb an Müller am 27. März 1832, dass er die Rede leider nicht ganz verstanden habe, da er zu entfernt und im Gedränge drin gestanden habe. Auch war mir der näselnde und dann wieder heulende Sprech-Ton nicht nach dem Herzen. Das Priesterliche aber habe ich wohl bemerkt und mitempfunden. Am meisten sprach mich an, was er mit Goethens Worten beynahe anführte, daß die Tugenden uns angehören, den Individuen; die Fehler aber, der gesammten Menschheit.[23]

Am 5. April 1832 schrieb Müller an den Leipziger Musikkritiker und Schriftsteller Johann Friedrich Rochlitz: Wie Röhrs Trauer-Rede Ihnen zusagen wird, bin ich höchst begierig zu vernehmen. Ich will mein Urtheil zurückhalten, prüfen Sie sie streng, aber unbefangen. Übrigens war Röhr stets bey Göthe sehr in Gunsten und schien auch seiner seits stets sehr ihm zugethan. Er glaubte als Priester gerade so sprechen zu müssen, um Übelwollende nieder zu halten. Ob er den richtigen Tact hielt, das ist die Frage. Ich dächte ich hätte Ihnen diese - hier häufig getadelte Rede schon gesendet?[24]

Rochlitz antwortete darauf am 14.(?) April: Was man früher nach Leipzig geschrieben, habe ich übertrieben, die feyerliche, höchsternste Stimmung des Redners und seine würdige, ausgebildete Sprache sehr achtbar befunden, aber - noch unerwähnt, daß aus dieser Rede selbst kaum zu vermuthen, es spreche hier ein christlicher Geistlicher, und gar nicht, er spreche dies an einem christlichen Altare - so hat von vorn herein die so gänzliche Herabsetzung - ich dürfte wohl sagen: Herabwürdigung - des jetzigen Weimars gegen das vormalige, selbst mich, den Abwesenden und Fremden, wahrhaft verletzt: wie viel mehr muß sie also auf die Anwesenden, eben in einer so großartig-edeln und liebevoll-anhänglichen Handlung Begriffenen, gewirkt haben! Und dann der ganze, allein über Schwächen sich ausbreitende Schluß; über Schwächen, die, eben in dieser Unbestimmtheit, diesem Tone, diesem Momente, an eben dieser Stelle geltend gemacht, als, wer weiß was, wo nicht gar als geheime Verbrechen erscheinen könnten;[25] die für den weniger Unterrichteten um so schlagendere Anführung jener eigenen Worte G's, die - tief, wahr, erschütternd, wie sie sind, doch wahrlich nicht leicht auf der Stelle richtig zu fassen und ohne ihre eigentliche, vielmehr in dieser ihnen gegebenen Verbindung so leicht zu mißverstehen sind: nein, mein Freund, diesen Schluß, wie gegründet und würdig an sich er sey, kann ich doch hier, und so, und als für den letzten Eindruck der gesammten Handlung, nur mit Schmerz betrachten; aufs billigste ihn, als einen unglücklichen Mißgriff, als den Flecken - den einzigen - der auch diesem, wie jedem von Menschen Veranstalteten, anfliegen und es um den Ruhm der Vollkommenheit bringen mußte, zu vergessen suchen.

Anders als die Trauerrede selbst ist ein weiteres Zeugnis von der Hand Röhrs geeignet, Goethes ambivalentes Verhältnis zum Berufsstand des Geistlichen im Nachhinein als gerechtfertigt erscheinen zu lassen.[26] Drei Tage nach der Beerdigung, am 29. März 1832, schrieb Röhr an seinen Kollegen Friedrich Reil einen Brief, der - wäre er bekannt geworden - angesichts der großen Goetheverehrung des Fürstenpaares den Verfasser wohl seine Position gekostet hätte: Gott ist tot, denn Goethe ist gestorben - rufen unsere Goethekoraxe mit einem Munde, Verehrtester. Was ich dazu gesagt habe, sehen Sie aus der Beilage [Druck der "Trauerworte"] [...] Urteilen Sie aber gnädig und mild über mein Gesagtes, denn ich hatte dazu nur ein paar Stunden Zeit, indem der Abgeschiedene sich selber zwar, nicht aber mir zur bequemen Stunde starb. Von den Brillanten seines Leichenbegängnisses werden Sie wahrscheinlich bald in allen Zeitungen lesen, auch wohl, was die ihm gewogenen und nicht gewogenen Totenrichter über ihn urteilen zu müssen glauben. Ich selbst bin über seinen sittlichen Wert mit möglichstem Glimpf hinweggegangen und habe mich damit begnügt, ihn mit seinem Fette zu beträufeln. Wer die nicht gesprochenen Worte aus den gesprochenen herauszulesen versteht, wird nicht im Zweifel sein, was ich meinte.[27]

Dieses Geständnis erweist die salbungsvollen Worte auf Goethe im Kreise der Trauergemeinde als lediglich taktisch gelöste Pflichtaufgabe ohne menschliche Anteilnahme. Umso bitterer klingt dies vor dem Hintergrund, dass Goethe Röhr als vermeintlichen Vertreter einer von Toleranz und Vernunft geprägten Theologie stets geschätzt und ihn zeitweise gar als seinen Testamentsvollstrecker in Erwägung gezogen hatte. An Herzog Carl August schrieb er anlässlich von Röhrs Antrittsbesuch am 6. Oktober 1820 aus Jena: [...] ich befreundete mich alsobald mit ihm; an guter Wirkung, die von ihm ausgehen wird, zweifle ich keineswegs; persönlich aber freut mich sehr die Hoffnung, daß ich mit ihm in ein gutes Verhältniß werde treten können.

Obwohl man sich in den Folgejahren regelmäßig begegnete, scheint Röhr von Anfang an innerlich distanziert geblieben zu sein - und in diesem Sinne wirken seine Abschiedsworte über den dezidirte[n] Nichtkrist[en][28] Goethe in der Fürstengruft konsequent.

 

Dr. MANFRED WENZEL promovierte 1983 mit einer Arbeit über "Goethe und Darwin. Goethes morphologische Schriften in ihrem naturwissenschaftshistorischen Kontext". Seit 1984 ist er in unterschiedlichen Projekten der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. In der Goethe-Forschung hat er als Autor und Herausgeber an mehreren Standardwerken mitgewirkt.

 

Bestand: Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Weimar
Signatur: 10043
Enthalten in: Ralf Georg Bogner (Hg.), Goethes Aufstieg ins Elysium. Nachrufe auf einen deutschen Klassiker. Dokumente 1832-1835 (Bibliotheca funebris 2), Heidelberg 1998

 

Anmerkungen:

[1] Zitiert aus Brief von Friedrich von Müller an Carl Friedrich Zelter, datiert am 29. März 1832, in: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 14 (1928), S. 215.

[2] Ebd., S. 214. - Eine derartige Verfahrensweise war in Weimar verboten und bedurfte einer Sondergenehmigung.

[3] Trauerworte bei von Goethe's Bestattung am 26sten März 1832. Gesprochen von D. Johann Friedrich Röhr [...], Weimar [1832]; zeitgleich erschienen in Magazin für christliche Prediger 5 (1832), H. 1, S. 240-243; zuletzt u.a. veröffentlicht in Ralf Georg Bogner (Hg.), Goethes Aufstieg ins Elysium. Nachrufe auf einen deutschen Klassiker. Dokumente 1832-1835 (Bibliotheca funebris 2), Heidelberg 1998, S. 25-28. Der vollständige Text der Trauerrede Röhrs ist über den Link am Ende des Artikels abrufbar.

[4] Dass mit Goethes Tod eine tiefe Zäsur in der Geistesgeschichte eintrat, wurde bereits unmittelbar nach dem Ereignis vielfältig formuliert. Das Ableben des großen Dichters wurde dabei sowohl als kulturelle Katastrophe wie als Chance für einen Neuanfang der Literatur gesehen. Aus Weimarer Sicht schrieb Carl von Stein an seinen Bruder Friedrich: Weimar wird nun wieder in sein altes Nichts zurücksinken, woraus es genommen ist, da sein [Goethes] Geist zu Gott stieg. [Ergänzung d.V.] Siehe Wilhelm Bode, Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen. Bd. 3: 1817-1832, München 1982, S. 342. - Heinrich Heine hatte bereits 1828 vom Ende der Kunstperiode gesprochen, die bey der Wiege Goethes anfing und bey seinem Sarge aufhören wird. Siehe Heinrich Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 12: Französische Maler, Französische Zustände, Über die Französische Bühne, 1. Text, bearb. von Jean-René Derré, Hamburg 1980, S. 47.

[5] Offenbarung 14,13. - Verbreiteter Topos in Nachrufen und Trauerreden.

[6] Dieser Gedanke einer fortgesetzten Tätigkeit in einer anderen Welt entsprach völlig Goethes eigener Anschauung. Beispielhaft im Brief an Zelter vom 19. März 1827: Wirken wir fort bis wir, vor oder nacheinander, vom Weltgeist berufen in den Äther zurückkehren! Möge dann der ewig Lebendige uns neue Thätigkeiten, denen analog in welchen wir uns schon erprobt, nicht versagen! Fügt er sodann Erinnerung und Nachgefühl des Rechten und Guten was wir hier schon gewollt und geleistet väterlich hinzu; so würden wir gewiß nur desto rascher in die Kämme des Weltgetriebes eingreifen. | Die entelechische Monade muß sich nur in rastloser Tätigkeit erhalten, wird ihr diese zur andern Natur so kann es ihr in Ewigkeit nicht an Beschäftigung fehlen. Siehe Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, Bd. 20: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832, Teil 1: Text 1799-1827, hg. von Hans-Günter Ottenberg und Edith Zehm, München/Wien 1991, S. 981f. - Johann Peter Eckermann überliefert aus einem Gespräch vom 4. Februar 1829 folgende Äußerung Goethes: Die Überzeugung unserer Fortdauer [nach dem Tod] entspringt mir aus dem Begriff der Tätigkeit; denn wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinem Geiste nicht ferner auszuhalten vermag. [Ergänzung d.V.] Siehe Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. 2: Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 12: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Johann Peter Eckermann (Bibliothek deutscher Klassiker 167), hg. von Christoph Michel, Frankfurt (Main) 1999, S. 301.

[7] Dass Goethe zahlreiche menschliche Schwachheiten und Gebrechen hatte, wird durch seine Krankengeschichte nachhaltig belegt. Die vehementen Reaktionen gerade auf diese Passage der Trauerrede (siehe unten) deuten bereits wenige Tage nach Goethes Tod auf eine rezeptionsgeschichtliche Tendenz hin, die ihre volle Ausprägung im Bild des Olympiers Goethe finden sollte. Diesem freilich durften solche Schwachheiten nicht nachgesagt werden. Eckermann schreibt in diesem Sinne bereits bei der Betrachtung von Goethes Leiche am 23. März 1832: [...] tiefer Friede und Festigkeit waltete auf den Zügen seines erhaben-edlen Gesichts [...] ich erstaunte über die göttliche Pracht dieser Glieder. Die Brust überaus mächtig, breit und gewölbt; Arme und Schenkel voll und sanft muskulös [...] nirgends am ganzen Körper eine Spur von Fettigkeit, oder Abmagerung und Verfall. Ein vollkommener Mensch lag in großer Schönheit vor mir, und das Entzücken, das ich darüber empfand, ließ mich auf Augenblicke vergessen, daß der unsterbliche Geist eine solche Hülle verlassen. Siehe Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. 2, Bd. 12 (wie Anm. 6), S. 495f.

[8] Der erste Satz des Zitats ist ein Aphorismus, den Goethe 1821 in "Über Kunst und Alterthum" (III 1) veröffentlichte. Statt Körperliches und Sittliches schreibt er Physisches oder Moralisches. Der weitere Text bildet den Schluss von "Kleine Biographien zur Trauerloge am 15. Juni 1821". Neben dieser, fünf ehemaligen Logenbrüdern gewidmeten Trauerrede hat Goethe zwei weitere, wesentlich bedeutendere verfasst: "Zum feierlichen Andenken der Durchlauchtigsten Fürstin und Frau Anna Amalia [...]" (1807) und "Zu brüderlichem Andenken Wielands" (1813).

[9] Lukas 12,48.

[10] Norbert Oellers/Robert Steegers, Treffpunkt Weimar. Literatur und Leben zur Zeit Goethes, 2. Aufl., Stuttgart 1999, S. 322.

[11] Walter Weisbecker, Goethe zwischen Frankfurt und Weimar, Frankfurt (Main) 1991, S. 261.

[12] Albert Bielschowsky, Goethe. Sein Leben und seine Werke, Bd. 2, 13. Aufl., München 1908, S. 682.

[13] Karl-Heinz Hahn, Letzte Lebensjahre, Tod und Bestattung, in: Ders. (Hg.), Goethe in Weimar. Ein Kapitel deutscher Kulturgeschichte, Leipzig 1986, S. 285-290, hier S. 288f.

[14] Siehe Hans Tümmler, "Unser großer Goethe" - Der Brief der Marie Schmidt über das Begräbnis Goethes, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1985, S. 52-63, hier S. 56.

[15] Nr. 79 vom 3. April 1832.

[16] Nr. 91 vom 16. April 1832.

[17] Zitiert nach Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang auf Grund der Ausg. und des Nachlasses von Flodoard Frhr. von Biedermann, ergänzt und hg. von Wolfgang Herwig, Bd. 3, Teil 2: 1825-1832, Zürich 1972, S. 909.

[18] Nr. 67 vom 3. April 1832.

[19] Nr. 90 vom 14. April 1832.

[20] Außerordentliche Beilage Nr. 127, Nr. 128/129, Nr. 132/133 und Nr. 134 vom 4. bis 8. April 1832.

[21] Zitiert nach Max Hecker, Goethes Tod und Bestattung. Neue Urkunden, in: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 14 (1928), S. 208-229, hier S. 227.

[22] Ebd.

[23] Zitiert nach Carl Schüddekopf (Hg.), Goethes Tod. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen, Leipzig 1907, S. 171.

[24] Ebd.

[25] Vermutlich nicht als einziger deutete Rochlitz die in der Trauerrede erwähnten menschlichen Schwachheiten auch im Sinne sittlich-moralischer Verfehlungen.

[26] Schon der junge Goethe schrieb am 26. April 1774 an den Diakon Johann Konrad Pfenninger: Und so ist das Wort der Menschen mir Wort Gottes es mögens Pfaffen oder Huren gesammelt und zum Canon gerollt oder als Fragmente hingestreut haben. Zitiert nach Goethes Werke, hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, Abt. 4: Goethes Briefe, Bd. 2: Frankfurt, Wetzlar, Schweiz 1771-1775, Weimar 1887, S. 156.

[27] Bode, Goethe in vertraulichen Briefen (wie Anm. 4), S. 345 [Ergänzung d.V.].

[28] Diese Formulierung in Goethes Brief an Johann Kaspar Lavater vom 29. Juli 1782; siehe Goethes Werke, Abt. 4 (wie Anm. 26), hier Bd. 6: Weimar, 1. Juli 1782-31. December 1784, Weimar 1890, S. 20.

 

Zitierweise: Manfred Wenzel, Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832). [...] die menschlichen Schwachheiten und Gebrechen, durch welche Du [...] der Natur ihre Schuld bezahltest – Johann Friedrich Röhrs Trauerrede bei Goethes Begräbnis, in: Leben in Leichenpredigten 09/2014, hg. von der Forschungsstelle für Personalschriften, Marburg, Online-Ausgabe: <http://www.personalschriften.de/leichenpredigten/artikelserien/artikelansicht/details/johann-wolfgang-von-goethe-1749-1832.html>

Dateien:
Trauerworte bei von Goethe’s Bestattung am 26sten März 1832(12.9 K)

Artikel nach...

...Monaten