Forschungsstelle für Personalschriften Marburg

"Wohlgelebt! Wohlgestorben?" - Leichenpredigten in der Historischen Bibliothek der Stadt Rudolstadt

04.05.2011

Kategorie: Ausstellungen, Tagungen

Von: Daniel Geißler

Kolloquium und Ausstellung im Alten Rathaus Rudolstadt am 15.04.2011

Bilderstrecke zu Kolloquium und Ausstellungseröffnung [1/26]

Die Forschungsstelle für Personalschriften an der Philipps-Universität Marburg, eine Arbeitsstelle der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz, hat vor kurzem den vierbändigen Katalog der Leichenpredigten und sonstiger Trauerschriften in der Historischen Bibliothek der Stadt Rudolstadt veröffentlicht (Band 51 der Reihe Marburger Personalschriften Forschungen). Anlässlich dieser Publikation veranstalteten beide Institutionen unter dem Titel "Wohlgelebt! Wohlgestorben? - Leichenpredigten in der Historischen Bibliothek der Stadt Rudolstadt" am 15. April 2011 im Alten Rathaus Rudolstadt ein wissenschaftliches Kolloquium. Im Fokus der Veranstaltung stand insbesondere die Präsentation erster Forschungsergebnisse, die bei der Auswertung des sowohl quantitativ wie qualitativ bedeutenden Leichenpredigten-Bestandes gewonnen werden konnten. Neben Beiträgen zur Kultur- und Sozialgeschichte des privaten Lebens wurde dabei auch die Rezeption des Quellenmaterials in der aktuellen Forschung zu Formen interdynastischer Repräsentation an mitteldeutschen Fürstenhöfen der Frühen Neuzeit diskutiert.

 

Eröffnet wurde das Kolloquium durch den Hausherrn, Bürgermeister Jörg Reichl. Anschließend richtete der langjährige Vorsitzende der Kommission für Personalschriften an der Mainzer Akademie, Landesbischof i.R. Professor Dr. Gerhard Müller (Erlangen) ein Grußwort an die Teilnehmer.

Im ersten Vortrag des Tages "Die Historische Bibliothek der Stadt Rudolstadt und ihre Funeralia-Sammlung" ging Michael Schütterle (Rudolstadt) zur Einführung in die Thematik des Kolloquiums detailliert auf die wechselvolle Geschichte der Bibliothek ein. Kenntnisreich schilderte er die mehrfachen Änderungen des Aufgabenprofils der zunächst privaten fürstlichen Hofbibliothek, später öffentlich zugänglichen Büchersammlung und den damit einhergehenden wechselnden Trägerschaften. Im Mittelpunkt der Ausführungen von Michael Schütterle standen die unterschiedlichen Provenienzen, aus denen sich der heutige Leichenpredigten-Bestand der Historischen Bibliothek über die Jahrhunderte ihrer Existenz generierte. Über den Zukauf privater Bibliotheken, besonders derjenigen des Kanzlers Carl Gerd von Ketelhodt durch Fürst Ludwig Friedrich II. von Schwarzburg-Rudolstadt, entstand eine der bedeutendsten thüringischen Personalschriftensammlungen. Die Bedeutung des Bestandes wird zudem noch durch die Tatsache aufgewertet, dass er über den langen Zeitraum seit 1748 kaum einschneidenden Verlusten unterlag.

 

Eva-Maria Dickhaut (Marburg) referierte danach über "Die Forschungsstelle für Personalschriften - Quellen, Aufgaben, Projekte". Zunächst schilderte sie abrissartig die Geschichte der 1976 gegründeten Forschungsstelle für Personalschriften an der Philipps-Universität Marburg und der von 1991 bis 2010 bestehenden Dependance an der Technischen Universität Dresden. Zur Verdeutlichung der Aufgabenfelder der wissenschaftlichen Einrichtung stellte Eva-Maria Dickhaut anschließend eingehend die Quellengattung Leichenpredigt vor. Neben den historisch-konfessionellen Grundlagen der von Martin Luther begründeten protestantischen Funeraltradition ging sie insbesondere auf die literarische Verselbstständigung einzelner Predigtbestandteile ein. Die Forschungsstelle für Personalschriften hat es sich zur Aufgabe gestellt, die gedruckten Leichenpredigten aus der Zeit zwischen Reformation und Aufklärung zu ermitteln und mit Hilfe der EDV auszuwerten. Das Interesse gilt dabei vor allem den in diesen Quellen enthaltenen Biographien der Verstorbenen.

Als multi- und interdisziplinäre Quellen werden die Leichenpredigten von den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen genutzt. Zur Katalogisierung des Funeralschrifttums dient ein von der Forschungsstelle eigens entwickeltes Auswertungsschema mit 54 Fragestellungen. In der Reihe Marburger Personalschriften-Forschungen, die bereits 51 Bände umfasst, werden die Kataloge der Leichenpredigten und sonstigen Trauerschriften veröffentlicht. Arbeitsschwerpunkte bildeten dabei bis Ende 2005 die Leichenpredigten-Landschaften Hessen und Schlesien; bis Ende 2010 wertete die Dresdner Arbeitsstelle die sächsischen Bestände aus. Um den "Speckgürtel" der Kernländer der Reformation im Alten Reich, wie es Professor Gerhard Müller treffend bezeichnete, zu vervollständigen, wurde 2006 mit der Bearbeitung der Leichenpredigten-Bestände in Thüringen begonnen. Dieses "Forschungsprojekt von nationaler Relevanz" beinhaltet die Katalogisierung von mindestens 10.000 Leichenpredigten. Im Rahmen dieses Projektes konnte die Bearbeitung der Bestände in Archiven und Bibliotheken in Altenburg und Rudolstadt bereits abgeschlossen werden, nächstes Ziel ist die Sammlung im Schlossmuseum Sondershausen.

Zusätzlich zur Katalogisierung übernimmt die Forschungsstelle auch die Verfilmung der ausgewerteten Bestände, 2009 wurde zudem mit der Digitalisierung des Filmarchivs begonnen. Dadurch hat die Forschungsstelle die Funktion eines Archivs für Personalschriften übernommen. Eva-Maria Dickhaut stellte in ihrem Vortrag auch das Serviceangebot der Forschungsstelle auf ihrer Website, das Wissensportal www.personalschriften.de vor. In mehreren fortlaufend aktualisierten Datenbanken können die Nutzer gezielt recherchieren, unter anderem Personennamen von Verstorbenen und Verfassern im Gesamtkatalog deutschsprachiger Leichenpredigten (GESA), der in über 201.000 Einträgen alle der Forschungsstelle zugänglichen Leichenpredigten erschließt, ebenso frühneuzeitliche Ortsnamen (THELO), Berufsbezeichnungen (THEPRO) oder Trauerschriften in der Universitätsbibliothek Wrocław/Breslau (TBK und SIBRES).

 

Unter dem Titel "Das Höchst-Schmertzliche und betrübte Rudolstadt" beschäftigten sich Birthe zur Nieden und Daniel Geißler (beide Marburg) dann speziell mit der Auswertung des Leichenpredigten-Bestandes der Historischen Bibliothek. Ausgehend von statistischen Erhebungen und anhand ausgewählter Beispiele präsentierten sie erste Forschungsergebnisse und konzentrierten sich insbesondere auf den Quellenwert des ermittelten Funeralschrifttums für die unterschiedlichsten historischen Forschungsdisziplinen. Beeindruckend war bei der Anzahl der insgesamt 4.500 katalogisierten Stücke vor allem die große Menge von 2.700 Schriften, die bisher noch nie von der Forschungsstelle ausgewertet worden waren.

Zu Beginn des Vortrags stellten die Referenten anhand einer Graphik die Verteilung der in den Rudolstädter Drucken ermittelten Todesjahre zwischen 1550 und 1800 vor. Die Häufigkeit der in einem Jahr gehaltenen Predigten lässt wichtige Rückschlüsse auf die Verbreitung dieser Form des Trauergedenkens während bestimmter Zeiträume zu und lenkt den Blick darüber hinaus auf bestimmte regionalhistorische Ereignisse wie etwa Seuchen oder Kriege. Beginnend mit der Analyse der prozentualen Verteilung der Stände sowie Berufsgruppen in den Predigten widmeten sich Birthe zur Nieden und Daniel Geißler anschließend konkret den namentlich erwähnten Verstorbenen.

Stellvertretend für die 1.436 Geehrten aus dem Bürgertum beschrieben sie kurz die berufliche Karriere eines Raschmachers aus Langensalza. Am Beispiel Wolff Christophs von Breitenbauch wurde ein tödlicher Standeskonflikt um gegenseitige Ehranerkennung aus der Gruppe des niederen Adels (387 Schriften) präsentiert. Ein während seiner militärischen Ausbildung gestorbenes Mitglied des Rudolstädter Fürstenhauses wurde schließlich als Vertreter des Hochadels (279 Stücke) herangezogen.

Die eruierten Schriften ermöglichen ebenfalls Einzelstudien zu geschlechterspezifischen Wahrnehmungen und Verhaltensweisen innerhalb der frühneuzeitlichen Gesellschaft, etwa den Emotionen von Ehemännern angesichts des Todes der Gattin oder Schwangerschaftsdepressionen wegen des frühzeitigen Todes kleiner Kinder. Wertvolle religionswissenschaftliche Erkenntnisse gestatten die Auszüge aus dem geistlichen Tagebuch einer Gräfin von Stolberg-Wernigerode. Bereits im Alter von sechs Jahren begonnen, verdeutlicht es eindrücklich die starke Selbstkontrolle, der das pietistisch erzogene Mädchen frühzeitig unterworfen war. Einen weiteren wichtigen Aspekt des Quellenwertes von Leichenpredigten beleuchteten Birthe zur Nieden und Daniel Geißler mit einer Predigt zum Thema Konfessionsmigration. Aufgrund eines kaiserlichen Mandats musste eine österreichische Adlige protestantischen Glaubens 1629 ihre Heimat verlassen. Im Nürnberger Exil verstorben, konnte sie sich hier auf ein breites Netzwerk von Schicksalsgenossen stützen.

Als weiteren statistischen Eckpunkt stellten die Referenten anschließend die regionale Verteilung der ermittelten Sterbe- und/oder Beerdigungsorte vor. Wie zu erwarten, konzentrieren sich die Orte auf Thüringen bzw. das Schwarzburg-Rudolstädter Territorium selbst. Aber auch Leipzig, Dresden sowie Städte in den heutigen Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern und Hessen sind relativ stark präsent. Interessant ist die große Zahl Schriften, die sich auf Nürnberg und dessen nähere Umgebung beziehen. Diese großteils reich mit bildlichen Beigaben ausgestatteten Predigten wurden hauptsächlich auf Angehörige der Nürnberger Patriziergeschlechter gehalten.

Als ein weiteres Thema befasste sich der Vortrag mit Predigten beigegebenen bemerkenswerten Reiseberichten, die Aufschluss über die erstaunlich hohe Mobilität der Menschen des 16. bis 18. Jahrhunderts gewähren. Dazu gehörten unter anderem Gesellenwanderungen, Expeditionen, Kavalierstouren oder der explizit vorgestellte mehrjährige Söldnerdienst eines Verstorbenen für die Niederländische Ostindien-Kompanie. Darüber hinaus stellten die Referenten Krankheitsberichte vor, deren präzise pathologische Terminologie Einblicke in die Behandlung körperlicher Leiden in der Frühen Neuzeit zulassen. Der hohe medizinhistorische Wert der in Leichenpredigten enthaltenen Informationen wurde in diesem Zusammenhang anhand einer detailliert geschilderten Obduktion exemplarisch dokumentiert.

Einen bedeutenden musikwissenschaftlichen Fund präsentierten Birthe zur Nieden und Daniel Geißler abschließend: Den Erstdruck eines noch heute im Evangelischen Gesangbuch verwendeten Gemeindeliedes des Komponisten Johann Hermann Schein. Multimedial umgesetzt, verglichen sie dabei den Originalnotensatz mit der modernen Notierung. Derartige oft etliche Sätze umfassende Trauerkompositionen finden sich mehrfach im ausgewerteten Leichenpredigten-Bestand.

Die Ausführungen von Birthe zur Nieden und Daniel Geißler zeigen, dass der Bestand der Historischen Bibliothek mit seiner thematischen Vielfalt und breiten geographischen Streuung für Historiker aller Fachrichtungen, Literaturwissenschaftler, Bibliothekare und Theologen mannigfaltige Informationen bereithält und zukünftige Forschungen in unterschiedlichsten Disziplinen befruchten kann.

 

Einer spezifisch adligen Thematik widmete sich Eva Bender (Marburg) mit ihrem Vortrag "Die Kavalierstour Ludwig Friedrichs I. von Schwarzburg-Rudolstadt im Spannungsverhältnis der Standeserhöhung". Nach einigen einleitenden Bemerkungen zur Kavalierstour im Allgemeinen skizzierte sie die Reise des späteren ersten Fürsten von Schwarzburg-Rudolstadt kurz, um diese anschließend mit weiteren, etwa zeitgleich stattgefundenen Reisen aus dem mitteldeutschen Raum zu vergleichen. Für diese Gegenüberstellung zog Eva Bender die Reisen Emanuel Lebrechts von Anhalt-Köthen (reiste 1687/88) und Johann Georgs IV. von Sachsen (reiste 1686) heran und konnte dadurch das spezielle Profil der Kavalierstour Ludwig Friedrichs I. deutlich herausstellen. Dieser hatte in seiner Jugend eine dem adligen Bildungsideal und den Traditionen gräflicher Häuser entsprechende und damit standesgemäße Bildungsreise absolviert. Sie war in jeder Hinsicht erfolgreich: in den durchlaufenen Stationen (inklusive Bewährung am französischen Hof) sowie in Begegnungen mit Wilhelm III. und Kaiser Leopold.

Dem Motto des Kolloquiums folgend, ging Eva Bender abschließend auf die Rezeption der Reise im publizierten Curriculum vitae Ludwig Friedrich I. ein, das laut der Referentin insbesondere im Kontext der Standeserhöhung des Rudolstädter Grafenhauses betrachtet werden muss. Im Gegensatz zu den Eltern Ludwig Friedrichs I. wurde der Tod des Fürsten keineswegs medial inszeniert: Wie bei zahlreichen weiteren Mitgliedern der Rudolstädter Linie zu beobachten, widmete man ihm kein aufwändiges Funeralwerk. Dies war zwar der besonderen innenpolitischen (juristische Auseinandersetzungen mit den Untertanen) und innerdynastischen Situation sowie der ständig prekären Finanzsituation geschuldet, wäre aber dennoch umgesetzt worden, wenn es für wichtig erachtet worden wäre. Offensichtlich spielte dieses Medium als Ausdruck eines bestimmten Herrschaftsanspruches keine herausragende Rolle für die Dynastie. Immerhin hat es Pläne gegeben, für die Nachwelt ein etwas repräsentativeres Funeralwerk zu publizieren, das damit eine standesgemäße Zeremonie erst konstruiert hätte. Das präsentierte Beispiel zeigt aber auch, so Eva Bender, in welchem Maß die Verstorbenen und ihre Memoria von den überlebenden Nachfolgern und ihren Intentionen hinsichtlich einer traditionsbildenden Legitimation von Herrschaft abhängig waren.

 

Die kollektive Erinnerung an Verstorbene musste aber nicht notwendigerweise von den Angehörigen oder dem Verfasser der Predigt bestimmt werden. Teilweise schrieben die Geehrten vor ihrem Tod aus eigener Motivation Lebensläufe und verfügten deren Verlesung während der Trauerfeierlichkeiten. Diese Quellengruppe ist bisher zu Unrecht von der historischen Selbstzeugnisforschung vernachlässigt worden. Über die "Autobiographischen Texte in Thüringer Leichenpredigten aus der Historischen Bibliothek der Stadt Rudolstadt" referierte Jörg Witzel (Marburg) im nächsten Vortrag. Die analysierten 28 Autobiographien sind vorwiegend in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts publiziert worden.

Wie Jörg Witzel bemerkte, wurden nur vier der Selbstzeugnisse von Frauen verfasst. Er zitierte in diesem Zusammenhang aus Kommentaren zweier Leichenpredigt-Autoren, die verdeutlichen, dass man weiblichen Autobiographien in jener Zeit nicht ohne Vorbehalte begegnete. Die Biographien stammen vorwiegend von bürgerlichen Autoren; mehr als die Hälfte von ihnen sind (protestantische) Geistliche. Kirchliche Funktionsträger waren zum Abfassen ihrer eigenen Lebensläufe vermutlich deshalb besonders motiviert, weil sie aus ihrem Arbeitsalltag wussten, welche Mühe es bereitete, nach dem Tod eines Menschen dessen Lebenslauf für die Leichenpredigt zu rekonstruieren.

Neben dem Bedürfnis, ihren Mitchristen am Beispiel des eigenen Lebens Zeugnis für die wunderbare Güte, Fürsorge und Führung Gottes abzulegen, spielte als weitere, explizit benannte Schreibmotivation das Bestreben, angesichts der Ungewissheit über den Zeitpunkt des eigenen Todes rechtzeitig schriftliche Informationen über ihr Leben festzuhalten, eine wichtige Rolle für die jeweiligen Verfasser. Für die Geistlichen, die über die Veröffentlichung einer Autobiographie im Rahmen einer Leichenpredigt zu entscheiden hatten, dürfte die Tauglichkeit eines solchen Textes für die Präsentation eines vorbildlichen Christenmenschen vor der Gemeinde den Ausschlag gegeben haben, so der Referent.

Die Mehrzahl dieser Lebensläufe unterscheidet sich weder im Umfang noch in Aufbau und Gehalt von durchschnittlichen Leichenpredigt-Personalia. Daher liegt es nahe anzunehmen, dass sie von vornherein zu dem Zweck angefertigt wurden, beim Begräbnis im Rahmen der Leichenpredigt verlesen zu werden. Ihre spätere Veröffentlichung – zumindest mündlich vor der Gemeinde – wurde also beim Niederschreiben mitbedacht. Das wirkte sich auf Auswahl und Darstellung der erinnerten Erfahrungen aus.

Bei der Präsentation existenzieller Leidenserfahrungen werden die Verfasser in der Regel beredter, ihre Sprache wird weniger spröde und knapp, als es allgemein bei Selbstzeugnissen jener Zeit die Regel ist. Jörg Witzel zeigte dies an mehreren Passagen aus den zugrunde liegenden Texten, die sich vor allem auf die Schilderung von Armut, Gewalt und Krankheit bezogen. Armut tritt dabei vor allem im Zusammenhang mit der Beschreibung von Schul- und Studienzeit in Erscheinung. Mehrfach taucht beispielsweise die Subsistenzsicherung während der Schulzeit durch Kurrendesingen in den Berichten auf. In einem Fall wird durch Armut bedingte Scham als Emotion zur Sprache gebracht. Gewalterfahrungen beschreiben insbesondere jene Autoren, die den Dreißigjährigen Krieg als Kinder bzw. Jugendliche erlebten. Krankheiten wird sehr viel deutlicher als Armut oder Gewalt Sinn als Prüfung Gottes zugewiesen. Unter anderem geht ein Pfarrer in einer von Jörg Witzel vorgestellten Autobiographie auf eine psychische Erkrankung ein, die er als Werk des Satans deutet. Den Beschreibungen der Krankheiten und ihrer Heilung kann man bemerkenswerte Informationen zur medizinischen Praxis des 17. Jahrhunderts entnehmen, etwa zur wichtigen Rolle, die Barbiere und Scharfrichter in ihr gespielt haben.

 

Stefan Anders (Osnabrück) stellte abschließend ein aktuelles Kooperationsprojekt der Forschungsbibliothek Gotha und des Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Osnabrück vor, das von der DFG gefördert wird und noch bis 2013 läuft. Am Beispiel des 1640 neu gegründeten und 1672 erweiterten Herzogtums Sachsen-Gotha-Altenburg werden Strukturen der Kommunikation und Repräsentation im mitteldeutschen Kulturraum untersucht. Materialbasis ist insbesondere das in der Forschungsbibliothek Gotha verwahrte anlassbezogene Kleinschrifttum, aus dem ein Tableau der agierenden Personen erarbeitet wird. Quer zu den Grenzen dieser Gattung entsteht eine monographische Studie zur Konstitution und Reproduktion des Hofes in Texten. Den "Medien höfischer Kommunikation" ist im November 2011 eine Tagung auf Schloss Friedenstein gewidmet.

 

In einem Schlusswort fasste Eva-Maria Dickhaut die Ergebnisse der einzelnen Vorträge zusammen und unterstrich noch einmal den in allen Referaten deutlich gewordenen hohen Quellenwert des in der Historischen Bibliothek lagernden Funeralschrifttums. Angeregt durch die erstaunliche Fülle an Informationen, aus der die Referenten bei der Auswertung des Bestandes schöpfen konnte, interessierte sich das Publikum übereinstimmend für eine Bibliotheksführung durch diese "Schatzkammer", wie von Eva-Maria Dickhaut treffend bezeichnet. Michael Schütterle zeigte sich zu diesem außerplanmäßigen Programmpunkt gern bereit und gewährte den Teilnehmern sachkundig Einblick in die Sammlungen.

Nach Abschluss des Kolloquiums wurde am frühen Abend eine gleichnamige Ausstellung eröffnet, in der neben besonders wertvollen auch außergewöhnliche Trauerschriften aus dem reichhaltigen Bestand der Historischen Bibliothek der Öffentlichkeit präsentiert werden. Die Mitarbeiter der Forschungsstelle für Personalschriften stellten in Kurzbeiträgen ausgewähltes Quellenmaterial in den Themenbereichen "Anfänge der Leichenpredigt", "Fürstliche Repräsentation", "Rudolstädter Einwohner", "Auf Reisen", "Fränkische Fundstücke" sowie "Außergewöhnliche Todesfälle" dem zahlreich erschienenen Publikum vor. Die Ausstellung im Alten Rathaus Rudolstadt kann bis einschließlich 15. Juli 2011 besichtigt werden.

 

Die Vorträge des Kolloquiums eröffneten durch ihre transdisziplinäre Perspektive einen Einblick in den hohen Quellenwert des in der Historischen Bibliothek gesammelten und aufbewahrten Funeralschrifttums für unterschiedlichste wissenschaftliche Disziplinen. Die ausgewerteten Bestände sind, abgesehen von der enormen Materialfülle, insbesondere dank ihrer inhaltlich herausragenden Bedeutung eindrucksvoller Beleg für den großen Nutzen der in Leichenpredigten und Trauerschriften enthaltenen Informationen für die Analyse der Sozial- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Die Referate konnten zukünftigen Forschungen vielfältige Impulse bieten.

Die Beiträge des Kolloquiums werden im Sommer 2013 gedruckt vorliegen.

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